Das ‹Concilium Bibliographicum› in Zürich und die Anfänge der Dezimalklassifikation in der Schweiz

Karteikarte

Die Dewey-Dezimalklassifikation ist eine international verbreitete Klassifikation für die inhaltliche Erschliessung von Bibliotheksbeständen. Auf der Grundlage eines hierarchisch gegliederten Rasters von 10 Klassen, mit ebensovielen Abteilungen, Abschnitten, Gruppen usw. werden die zu verzeichnenden Sachverhalte dabei numerisch notiert. Das System geht auf den US-amerikanischen Bibliothekar Melvil Dewey zurück.[1] Die Einführung dieser Methode der bibliothekarischen Sacherschliessung in Europa wird gemeinhin mit den Aktivitäten von Paul Otlet und Henri La Fontaine bzw. des von ihnen 1895 in Brüssel gegründeten Institut International de la Bibliographie (IIB) in Verbindung gebracht, die das Deweysche System zur Universellen Dezimalklassifikation (UDK) weiterentwickelt und intensiv beworben haben.

Wurde die Arbeit von Otlet und La Fontaine in den letzten Jahren breit gewürdigt und das IIB verschiedentlich auch als ‹Zettelsuchmaschine›, ‹Papier-Google› und Vorreiter des Internets gefeiert,[2] sind andere Akteure weitgehend vergessen. Einer davon ist der amerikanische Zoologe Herbert Haviland Field.[3] Field begründete 1895 in Zürich das Concilium Bibliographicum, einen internationalen Literaturdienst in Karteiform für den Bereich der Zoologie und angrenzender Wissenschaften. Laut den Statuten des als Genossenschaft organisierten Unternehmens war sein Zweck die «Auskunfterteilung über den jeweiligen Stand der Forschung in gewissen Gebieten der Wissenschaft, sowie jede Erleichterung der wissenschaftlichen Untersuchung».[4] Zu diesem Zweck setzte man in Zürich, wie auch in Brüssel, auf die Kombination von Zettelkatalog und Dezimalklassifikation.

In einem 1894 erschienen Artikel zur «bibliographischen Reform» schreibt Field, dass diese in der Errichtung eines «internationalen Zentralbüreaus» zur Literaturverarbeitung bestehen müsse.

«Die erste Aufgabe des bibliographischen Büreaus würde darin bestehen, vollständige Listen von sämtlichen neuen Publikationen anzulegen. Sobald eine solche Liste die Länge eines Druckbogens erreicht hätte, würde sie in zwei verschiedenen Formen gedruckt werden. Die eine Form würde eine einfache Broschüre, etwa wie der bibliographische Teil des Zoologischen Anzeigers, darstellen. Für die andere Form würde man sich eines stärkeren Papiers bedienen und die Titel durch große Intervalle getrennt drucken lassen. Solche nur auf einer Seite bedruckten Blätter würde man dann den einzelnen Titeln entsprechend zu kleinen Zetteln aufschneiden, die zum Zwecke einer weiteren Verarbeitung der Litteratur Verwendung finden würden.»[5]

Die gedruckten Zettel würden in einem permanenten Zettelkatalog gesammelt und klassifiziert werden. Nach welchem System diese Klassifikation zu erfolgen habe, darüber sagt der Artikel nichts. Nach eigenen Angaben beschäftigte Field diese Frage aber bereits seit Mitte 1894 intensiv. Die Entscheidung für die Deweysche Dezimalklassifikation, die ihm mindestens seit 1890 bekannt war, wurde allerdings erst im Herbst 1895 getroffen.

«No definite descision could, however, be reached at that time and even the arguments brought forward by the originator of the system failed to prove convincing. [...] In the state of doubt prevailing in the autumn of 1895, it was the vote of Prof. [Julius Victor] Carus that decided the matter. Prof. Carus after a short study of the decimal classification declared that this system represented a close approximation to the ideal towards which he had been striving in the dark for nearly half a century.»[6]

Field stand zu dieser Zeit auch in dauerndem Austausch mit Otlet und La Fontaine. Die Dezimalklassifikation als gemeinsame Basis ermöglicht in den folgenden Jahren eine enge und fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Zürich und Brüssel. So ist beispielsweise der Entscheid zur Verwendung der amerikanischen Standard-Katalogkarte (3 × 5 Zoll) durch das IIB direkt auf eine entsprechende Empfehlung Fields zurückzuführen.[7]

War 1894 als Ort für das Concilium Bibliographicum noch London oder Neapel mit seinen grossen zoologischen Bibliotheken erwogen worden, entschloss man sich schliesslich für das zentral gelegene Zürich. Anfang November des Jahres 1895 wurden Räume in unmittelbarer Nähe von Universität und Polytechnikum gesichert.[8] Am 13.11.1895 nahm hier Field mit einer Sekretärin die Arbeit des Concilium Bibliographicum auf. Finanziert wurde das Unterfangen in den ersten Jahren von Anton Dohrn, dem Leiter der Stazione Zoologica in Neapel, der in dieser Funktion eine wichtige Rolle bei der Ausarbeitung des Projekts gespielt hatte,[9] sowie der Société zoologique de France. Auch die Eidgenossenschaft unterstützte das Projekt mit einem Beitrag von jährlich 2000 Franken. 1897 geriet das Concilium Bibliographicum allerdings in finanzielle Schwierigkeiten, die das Unternehmen in den folgenden Jahren an den Rand der Schliessung brachten. Diese konnte dadurch abgewendet werden, dass die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft im Jahr 1900 das Concilium unter ihr Protektorat nahm und eine Erhöhung der Subventionen durch die Eidgenossenschaft auf 5000 Franken erwirken konnte.

Treibende Kraft war dabei der damalige Rektor der Universität Zürich, der Zoologe Arnold Lang. Aus seiner Feder stammt das entsprechende Gutachten, das darauf hin in einer erweiterten Fassung gedruckt in Form eines kleinen Hefts erschien. In diesem Zusammenhang kommt Lang auch ausführlich auf das hier angewandte System der Dezimalklassifikation zu sprechen. Lang betont, dass es sich bei diesem um ein «rein künstliches System» handle, dass einzig dem Zweck einer «raschen und leichten Orientirung in dem Chaos der Weltlitteratur» diene. Hierbei leiste das System in Kombination mit einer konsequenten ‹Verzettelung› allerdings beachtliches.

«Gesetzt nun ich bin auf den Field’schen Zettelcatalog abonnirt. Es interessirt mich aus diesem oder jenem Grunde gerade jetzt zu erfahren, was über die Forellen (Salmoniden) in den letzten Jahren publizirt worden ist. Ich konsultiere die übersichtliche Tabelle, die neben dem Zettelcatalog an der Wand hängt und finde sofort, dass die Physostomen, zu denen die Forelle gehört, mit 59755 bezeichnet werden. Jetzt consultire ich meinen nach dem Dezimalsystem geordneten Zettelcatalog und finde huntertunddrei mit 59755 bezeichnete Zettel. Es sind also, vorausgesetzt dass der Catalog vollständig ist, seit 1. Januar 1896 […] in der ganzen Welt zusammen 103 Arbeiten über Physostomen erschienen. Ich suche weiter unter diesen Zetteln die mit S oder mit Salmo bezeichneten und finde an die 50 Zettel mit dem Titel ebensovieler deutscher, französischer, englischer u.s.w. Abhandlungen über die Lachse und Forellen. Alles das ist im Nu geschehen; ich habe nicht einmal eine Minute dazu gebraucht.»[10]

Der engagierte Bericht des angesehenen Wissenschaftlers Lang dürfte wesentlich zur Verbreitung der Dezimalklassifikation in der Schweiz beigetragen haben.

Für das Concilium Bibliographicum setzte sich auch Johann Henrich Graf ein. Der damalige Präsident der Schweizerischen Bibliothekskommission war massgeblich an der Gründung der Schweizerischen Landesbibliothek 1895 beteiligt. Neben den Vorzügen, die ein sprachunabhängiges System für die Nationalbibliothek eines mehrsprachigen Landes hat, dürfte nicht zuletzt diese Konstellation dafür verantwortlich sein, dass die neugegründete Landesbibliothek als eine der ersten kontinentaleuropäischen Bibliotheken für die Sacherschliessung die Universelle Dezimalklassifikation adaptierte. So ordnet bereits 1906 eine gedruckt erschienene «Systematische Übersicht» zum Realkatalog der Bibliothek die Bestände entsprechend und propagiert die Dezimalklassifikation als ein System, «das sich schon für verschiedene bibliographische Unternehmungen trefflich bewährt hat».[11] Zur gleichen Zeit wurde für das Concilium Bibliographicum an der Hofstrasse 49 in Zürich-Hottingen ein eigenes Gebäude errichtet, in welches das Institut 1908 einzog. 1940 wurden die Arbeiten kriegsbedingt eingestellt und nach 1945 nicht wiederaufgenommen.

In der Schweizerischen Landesbibliothek, der heutigen Nationalbibliothek (NB), wurde die Dezimalklassifikation noch bis 1998 zur thematischen Erschliessung der Medien verwendet.



[2] Einer der überzeugenderen Würdigungen ist die Fernsehdokumentation «Alle Kennis van de Wereld» von 1998 mit dem charmanten Otlet-Biographen W. Boyd Rayward.

[3] So findet sich beispielsweise im aktuellen Historischen Lexikon der Schweiz (HLS) – im Gegensatz zur Neuen Schweizer Biographie von 1938 – keinen Eintrag zu Herbert H. Field. Hier taucht er einzig auf als Vater von Noel Field.

[4] Statuten des Concilium Bibliographicum (Zürich n.d.), Zentralbibliothek Zürich, LK 952.

[5] Herbert Haviland Field: «Die bibliographische Reform», in: Biologisches Centralblatt, 1894, Nr. 14, S. 270–272.

[6] Ders.: «A Brief Account of the Foundation of the Concilium Bibliographicum», in: Annotationes Concilii Bibliographici 3, 1907, S. 1–5.

[7] Vgl. Colin B. Burke: Information and Intrigue (Cambridge, Mass. 2014), S. 64.

[8] Universtitätsstrasse 8 (Vgl. Stadtplan von Zürich um 1900).

[9] «The winter of 1894–1895 was spent in Naples elaborating together with Prof. Paul Mayer a complete programme of action, part of which was printed and served as a basis for further development», Field (1907), S. 2; Siehe auch: Prospectus for Establishing an International Bibliographical Bureau for Zoology and Comparative Anatomy (Neapel 1895), Burgerbibliothek Bern (BBB) GA SANW 591.

[10] Arnold Lang: Bericht und Gutachten des Centralcomités der Schweiz. Naturf. Gesellschaft über das vom Bibliographischen Centralbureau für Zoologie, Anatomie und Physiologie in Zürich an das hohe Eidg. Departement des Innern gerichtete Subventionsgesuch (Chur 1900), S. 7, (BBB) GA SANW 591.

[11] Schweizerische Landesbibliothek (Hg.): Systematische und alphabetische Übersicht zum Realkatalog der Schweizerischen Landesbibliothek (Bern 1906).