Hebräische Schriftgestaltung im Kontext von Buchkunstbewegung und ‹Neuer Typographie›

Unter dem Schlagwort der ‹Neuen Buchkunst› formierten sich in Deutschland um 1900 Bestrebungen zu einer Erneuerung der Buch- und Schriftgestaltung nach dem Vorbild der englischen Arts-and-Crafts-Bewegung. Diese Erneuerungsbewegung verstand sich als Reaktion auf die in Deutschland vor allem nach der Reichsgründung 1871 rasant vorangetriebene Industrialisierung. Die Ablösung der handwerklich-traditionellen durch eine zunehmend technisierte Produktion betraf neben diversen Gütern des täglichen Gebrauchs auch die Buchherstellung. Folgt man den zeitgenössischen Kommentatoren führte dies zu einem qualitativen Niedergang der neben dem Material auch die Ästhetik betraf. Neben den verschiedenen industriell hergestellten Gütern wurde um die Jahrhundertwende auch beim Buch die Forderung nach einer zeitgemäßen, material- und zweckgebundenen Form laut. Diese Forderung betraf all seine Elemente und nicht zuletzt auch die Druckschriften. So wurde damit begonnen zur Schriftgestaltung Künstler herbeizuziehen. Die auf diese Weise erzielten Resultate waren in einer ersten Phase noch stark von der Formensprache des Jugendstils beeinflusst. Nach Ende des Ersten Weltkriegs setzte dann allerdings eine deutliche Hinwendung zu historischen, stärker handschriftbasierten Formen ein. Dies verdankte sich zu einem großen Teil dem Einfluss des englischen Schriftkünstlers Edward Johnston. Der an der Londoner School of Arts and Crafts lehrende Johnston und seine auf den Formen alter Handschriften fussende kalligraphische Methode war in Deutschland vor allem durch das Wirken seiner Schülerin und Übersetzerin Anna Simons bekannt geworden. In der Folge wurden Fragen der Schriftgestaltung dezidiert traditionsgebunden behandelt und vor allem durch die intensive Beschäftigung mit historischen Formen bestimmt. Mit dieser Tendenz, welche das gestalterische Selbstverständnis sowohl von Franzisca Baruch als auch von Henri Friedlaender nachhaltig prägte, brach um 1925 schliesslich die ‹Neue Typographie›, die eine neue, wahrhaft industrielle Ästhetik propagierte.

Schriftgestaltung und kunstgewerbliche Ausbildung in Deutschland

Ein wichtiger Träger dieser ästhetischen Tendenz waren Kleinpressen nach dem Modell der in den 1890er Jahren von William Morris in Hammersmith bei London betriebenen Kelmscott Press. Hierbei handelte es sich um Betriebe, bei denen die Arbeitsteilung zwischen Verlag, Gestaltung und Herstellung zugunsten einer ganzheitlichen Praxis weitgehend aufgehoben war. Auf diese Weise wollte man einem möglichst idealen Einklang von Buchinhalt und Buchgestalt erreichen. Die Pressedrucke sollten als Vorbilder wirken und so dazu beitragen, die formale, handwerkliche und künstlerische Qualität von Büchern, Zeitschriften und nicht zuletzt von Druckschriften nachhaltig zu verbessern. Tatsächlich gelang es in Deutschland den Pressen sich in diesem Sinn als ‹Versuchsanstalten› zu positionieren und es sind in der Folge eine Reihe größere Unternehmen die zu Trägern der buchkünstlerischen Erneuerung werden.[1] Als beispielhaft für das erfolgreiche Zusammenspiel von bibliophiler Reformbewegung und Massenproduktion kann neben dem Insel Verlag mit seiner ‹Bücherei› auch die Schriftgießerei Gebr. Klingspor in Offenbach gelten. Das weltweit tätige Unternehmen, das 1907 auch zu den Gründern des Deutschen Werkbunds gehörte, war bekannt dafür, ausgesprochen hohen Wert auf die ästhetische Qualität seiner Schriften zu legen. In den 1920er Jahren beschäftigte das Unternehmen mit Rudolf Koch einen der herausragenden Schriftkünstler Deutschlands, der mit seiner im Rahmen dieser Zusammenarbeit entfalteten gleichsam expressiven wie im Handwerk verwurzelten Schriftgestaltung nicht nur für Henri Friedlaender ein wichtiges Vorbild war.

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Anzeige für die Schriftgießerei Gebr. Klingspor unter Verwendung der Schriften ‹Neuland› und ‹Koch-Antiqua› von Rudolf Koch, 1926.

Das Vorhandensein einer graphischen Industrie mit ausgesprochenem Qualitätsbewusstsein verband sich in Deutschland zu dieser Zeit mit der Grundlagenbildung in Schriftkursen an einer Reihe von Kunstgewerbeschulen, welche die vom Werkbund ausgehenden Impulse bald aufgenommen und in die Ausbildung integriert hatten. So bestand beispielsweise in Leipzig, dem Zentrum der deutschen Buchproduktion, die Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe.[2] Hier bewarb sich 1925 der 21-jährige Henri Friedlaender. Friedlaender hatte zu diesem Zeitpunkt bereits seit drei Jahren in einer Berliner Druckerei gearbeitet. Seinem Bewerbungsschreiben zufolge, war für ihn dabei vor allem, der Drang bestimmend, «mich in künstlerisch-handwerklicher Hinsicht so auszubilden, daß ich mit Erfolg in einer ‹Presse› oder an ähnlicher Stelle mitarbeiten kann.»[3] Für Friedlaender, der die Leipziger Akademie mit bestandener Meisterprüfung als Schriftsetzer im Juli 1926 nach weniger als einem Jahr bereits wieder verliess, war es der Unterricht in Entwerfen und Schriftkunst bei Hermann Delitsch an der Akademie, der ihn nachhaltig prägen sollte.[4]Delitsch war ein Pionier im Feld der kunstgewerblichen Lehre der Schrift. Im Rahmen des von ihm an der Akademie aufgebauten Schriftkurses betrieb er auch ausgiebig schriftgeschichtliche Studien und baute eine umfangreiche Sammlung von Beispielen geschriebener und gedruckter lateinischer Schriften auf. Der Schriftunterricht bestand hauptsächlich im sorgfältigen Nachschreiben dieser Vorbilder. Delitschs systematische Vorbildsammlung war es auch, die Friedlaender dazu inspirierte, eine entsprechende Sammlung hebräischer Schriften aufzubauen.[5]

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Übungsblätter von Henri Friedlaender aus dem Kurs von Hermann Delitzsch an der Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe in Leipzig, 1925/26 [Klingspor-Museum Offenbach, Sammlung Henri Friedlaender].

Die Schreibkunst wurde auch an der Unterrichtsanstalt des Staatlichen Kunstgewerbemuseums Berlin gepflegt, an die im Sommersemester 1918/19 Franzisca Baruch nach bestandener Eignungsprüfung in die Fachklasse für Buchkunst und Grafik aufgenommen wurde. In Berlin hatte sich der langjährige Leiter der Bibliothek des Kunstgewerbemuseums, Peter Jessen, welcher der jungen Buchkunstbewegung in Deutschland publizistisch und in Form von öffentlichen Vorträgen den Weg bereitet hatte, mit seiner Überzeugung durchgesetzt, dass bei Fragen der Buchgestaltung der Schrift das Primat vor der Verzierung eingeräumt werden müsse – dies im Zusammenhang mit einem sich oftmals auf Buchschmuck beschränkenden Begriff von Buchgestaltung. Jessen vertrat mit Johnston die Meinung, dass eine Hebung der Qualität der Druckschriften dabei nicht ohne eine allgemeine Pflege der Schreibkunst zu erreichen sei.[6] Die neben Jessen in Fragen der Schriftgestaltung bestimmende Figur an der Unterrichtsanstalt war der renommierte Schriftkünstler Emil Rudolf Weiß. Weiß, der zur Zeit von Baruchs Studien in Berlin u.a. mit einer Sondernummer der Fachzeitschrift Archiv für Buchgewerbe und Gebrauchsgrafik geehrt wurde,[7] war als Autodidakt vom Jugendstil hergekommen und hatte danach Schriftkurse bei Anna Simons besucht. Von Jessen war er zudem mit den Druckschriften der Wiegendruckzeit vertraut gemacht worden.[8] So zeichnen sich die schriftkünstlerischen Arbeiten Weiß’ auch durch einen dezidierten Traditionsbezug aus. Der Kulturhistoriker Walther Georg Oschilewski spricht in diesem Zusammenhang von «Schriftdenkmälern», die Weiß «auf dem Weg eines eigenschöpferischen Umformungsprozesses» in neuer Gestalt in seinen Arbeiten wieder aufleben lasse.[9] An der Unterrichtsanstalt des Kunstgewerbemuseums unterrichtete Weiß allerdings nicht als Grafiker, sondern als Kunstmaler und Leiter der Fachklasse für Dekorative Malerei und Musterzeichnen. Durch Vermittlung von befreundeten Lehrern war sein Einfluss auf die Schriftgestaltung ein zwar indirekter, aber deshalb nicht weniger nachhaltig. So hatte Franzisca Baruch in ihrem ersten Semester an der Unterrichtsanstalt Abendkurse in Schrift bei Else Marcks-Penzig besucht,[10] die eine Meisterschülerin von E. R. Weiß gewesen war und in Zusammenarbeit mit diesem auch Bucheinbände und Schutzumschläge für die Verlage S. Fischer und Insel gestaltet hatte.[11] Die Tasache, dass die begabte Gestalterin, die während der Kriegsjahre an der Unterrichtsanstalt erfolgreich als Lehrerin tätig war, nach Kriegsende bald wieder durch einen Mann ersetzt wurde, dürfte der jungen Studentin die prekäre Situation berufstätiger Frauen deutlich vor Augen geführt haben. Nach drei Jahren in der von Emil Orlik geleiteten Fachklasse für Buchkunst und Grafik wechselte Baruch 1922 in die damals neugeschaffene Fachabteilung «Gebrauchsgraphik», wo Ernst Böhm ihr Lehrer wurde. Böhm der sich mit Illustrationen und als Entwerfer von Bucheinbänden und Briefmarken einen Namen gemacht hatte war mit E.R. Weiß gut befreundet und während er als Grafiker durchaus einen eigenen Stil entwickelt hatte, der sich u.a. durch Anleihen an ‹naive› Formen und Motive der Volkskunst auszeichnete, bleiben seine schriftkünstlerischen Arbeiten gänzlich in dem von Weiß abgesteckten Rahmen.[12]

Franzisca Baruchs Beschäftigung mit den Formen der hebräischen Schrift – die gesprochene Sprache sollte sie sich erst viel später und eher schlecht als recht aneignen – fällt in die ersten Jahre als Schülerin der Unterrichtsanstalt. Hier nutzte sie offenbar intensiv die, durch die reichen Bestände der Kunst- und vor allem der Staatsbibliothek in Berlin gegebene Möglichkeit zum Selbststudium, wie ein in ihrem Nachlass befindliches Skizzenbuch nahelegt.[13] Analog zu den Bestrebungen einer schöpferischen Wiederbelebung verschütteter Traditionsbestände lateinischer Antiqua- und deutscher Frakturschriften, wie sie an der Unterrichtsanstalt und in bibliophilen Kreisen propagiert wurde, näherte sie sich dem Hebräischen über die in mittelalterlichen Handschriften und Frühdrucken zu findenden Formen. Ausgehend von diesen historischen Vorbildern entwickelte sie in der ersten Hälfte der 1920er Jahre eine Reihe kalligraphischer Stile, mit denen sie sich als erste hebräische Schriftkünstlerin Berlins etablierten konnte, und mit ‹Stam› schliesslich auch eine gegossene Schrift für den Druck, produziert 1928 von der in Berlin ansässigen Gießerei H. Berthold AG.[14] Die Type orientierte sich am Modell der im Jahr 1526 in Prag gedruckten Pessach Haggadah des Gershom Kohen. Als erfolgreiche typographische Aktualisierung einer aschkenasischen Quadratschrift aus dem 16. Jahrhundert passt Oschilewskis Begriff des ‹Schriftdenkmals› auch für Baruchs Stam.

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Titel einer Broschüre zu der von Franzisca Baruch entworfenen Schrift ‹Stam› und ihrer Variationen, um 1925. 

Berlin als Zentrum neuhebräischer Buchkunst

Die Spezialisierung der jungen Schriftkünstlerin auf das Hebräische fällt in eine Zeit äusserst lebhafter hebräischer und jiddischer Publikationstätigkeit in Berlin, einer Stadt die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zu einer wichtigen Station der jüdischen Migration aus Osteuropa geworden war. Unter den Migranten befanden sich auch eine Reihe von Schriftstellern und Verlegern, deren Aktivitäten Berlin in den Jahren zwischen 1919 und 1924 zu einem Zentrum einer die Sprache und ihren Gebrauch revolutionierenden jiddischen und hebräischen Literatur machten.

In diesem Zusammenhang steht auch die Publikation Katalog hebräischer und jüdischer Schriften, der H. Berthold AG, die weltweit erste ausschließlich hebräische Druckschriften enthaltende Publikation einer Schriftgießerei.[15] Neben einer beinahe luxuriös zu nennenden Ausstattung zeichnete sich der Katalog auch durch eine Vielzahl von praktischen Anwendungsbeispielen für die angebotenen Schriften aus – in den Worten des Herausgebers dazu bestimmt, «dem hebräischen Typographen […] den Anschluss an die abendländische Buchdruckerei zu erleichtern»[16]. Im Zentrum des Berthold-Katalogs stand dabei die in sämtlichen gebräuchlichen Größen angebotene ‹Frank-Rühl, die mit einigem Recht als erste modern-hebräische Druckschrift, gelten kann. Mit seinem Entwurf hatte ihr Schöpfer, der Leipziger Kantor Rafael Frank, vor allem die nationaljüdische Bewegung im Blick, von welcher der Impuls ausging, aus der Sprache des religiösen Ritus, eine lebendige Alltags- und Literatursprache zu schaffen.[17] Von der Schriftgießerei C. F. Rühl in Leipzig bereits 1910 gegossen, erlangte die ‹Frank-Rühl im Zuge der Übernahme der kleinen Leipziger Firma durch die weltweit tätige Berthold AG ihre Stellung als mit Abstand meistverwendete hebräische Druckschrift. Dieser Erfolg hängt auch damit zusammen, dass von den vor 1948 neugeschaffenen hebräischen Typen keine als Grundschrift für den Werksatz brauchbar war, da eine solche äusserst hohen Ansprüchen genügen muss, sie hat auch in kleinen Größen leicht lesbar und vielfältig verwendbar zu sein. Schriften wie Franzisca Baruchs Stam wurden nicht für Mengensatz eingesetzt, sondern lediglich als sogenannte Akzidenzschriften für den wirkungsvoll gestalteten Druck kürzerer Texte wie Werbeanzeigen, Geschäftsdrucksachen, Titel oder Zeitungsköpfe.

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Schriftbeispiel der ‹Frank-Rühl-Hebräisch›, 1924.

Im Jahr des Erscheinen des Berthold-Katalogs gründete sich in Berlin auch die erste Organisation jüdischer Bibliophilen, die sich in Anlehnung an eine im 15. Jahrhundert in Italien aktive Druckerfamilie «Soncino-Gesellschaft der Freunde des jüdischen Buches» nannte. Die Gesellschaft hatte sich die Aufgabe gestellt, «die jüdische Buchherstellung durch Beratung und Kritik auf den der jüdischen Allgemeinkultur entsprechenden Stand zu heben und dahin zu wirken, daß die Form des jüdischen Buches als repräsentativ für das jüdische Geistesleben gelten darf».[18] Aus den Reihen dieser von deutschsprachigen Juden geprägten Vereinigung kam eine erste dezidierte Kritik an den von der Berthold AG breit vermarkteten hebräischen Schriften. Insbesondere die ‹Frank-Rühl sah man weniger als Ausdruck der kulturellen Erneuerung des Judentums, denn als «verspätetes Kind des Jugendstiles».[19] Eine neue hebräische Druckschrift, so die Überzeugung in diesen Kreisen, könne nur auf der Grundlage historischer Vorbilder entwickelt werden. Schliesslich beschloss die Gesellschaft auf diesem Gebiet selber aktiv zu werden. Für den Druck einer luxuriösen hebräischen Bibel wurde 1927 der populäre nichtjüdische Buchkünstler Marcus Behmer mit der Gestaltung einer Type beauftragt. Als Modell wurde dabei, wie bei Baruchs Stam, ebenfalls die Type der Prager Haggadah von 1526 gewählt.

Bauhaus und «Neue Typographie»

Während in den Kreisen der jüdischen und nichtjüdischen Bibliophilen dem Ideal einer historisierenden Schriftgestaltung und Typographie gehuldigt wurde, formierte sich in Avantgardekreisen ein Verständnis von Gestaltung, das an diese zuallererst den Anspruch stellt, zeitgemäß zu sein. Analog zum funktionalistischen ‹Neuen Bauen› ist von der ‹Neuen Typographie› die Rede. Beeinflusst vom russischen Konstruktivismus und der niederländischen Stjil-Bewegung wird verschiedenenorts der Versuch unternommen, eine der industriellen Produktionsweise entsprechende typographische Ästhetik zu entwickeln. Der Losung technischer Rationalität folgend sollen die Buchstabenelemente dabei auf einige wenige Grundformen reduziert werden. Ein wichtiger – wenngleich auch keinesfalls der einzige – Kristallisationsort für diese Tendenz war in Deutschland das 1919 in Weimar begründete und 1925 nach Dessau umgezogene Bauhaus. Eine Schlüsselrolle spielte dabei László Moholy-Nagy, der hier 1923 die Leitung des gestalterischen Vorkurses, der von seinem Vorgänger Johannes Itten eingeführten beiden Grundlehrsemester, übernahm. Moholy-Nagy vertrat die Meinung, dass die bisher grösstenteils traditionsbestimmten Schriftformen grundlegend umgestaltet werden müssten. Mit der Einstellung von Herbert Bayer, Josef Albers und Joost Schmidt, drei ehemaligen Studenten Moholy-Nagys, wurden seine revolutionären typographischen Ideen 1925 endgültig zur Lehrmeinung am Bauhaus.[20] Der für alle Vorkursstudierenden obligatorische Schriftunterricht wurde Joost Schmidt übertragen. Im Gegensatz zum Unterricht in Leipzig oder Berlin wurde in dem «Schrift und Reklame» benannten Kurs nicht mehr die Handschrift als formale Grundlage der Buchstaben vermittelt, sondern eine an geometrischen Formen orientierte Konstruktion.[21] [Abb. 5] Wie der Name seiner Unterrichtseinheit nahelegt, stand Schmidts Auffassung von Schrift in engem Zusammenhang mit den Forderungen des sich zu dieser Zeit rasant entwickelnden Werbewesens. Schrift soll rational zu entwickeln sein, einheitlich und deutlich lesbar. Auf dieser Grundlage wurden am Bauhaus eine Reihe geometrischer Alphabete entwickelt, von denen allerdings keine je in Lettern geschnitten wurde. So wurden am Bauhaus die in Avantgardekreisen verbreiteten Ideen zur Schriftgestaltung zwar gebündelt und systematisiert, die Übertragung dieser Ideen in brauchbare und kommerziell nutzbare Schriften aber wurde hauptsächlich von anderen Instanzen geleistet.[22] So revolutionär sich die Ideen der Neuen Typographie für den weiteren Bereich der Gebrauchsgrafik erwiesen, so gering war aber letztlich ihre Auswirkung auf das literarische Buch, dessen Form im Zentrum der Bemühungen sowohl von Friedlaender als auch Moritz Spitzer stand. Das mag damit zu erklären sein, dass dieser Kernbereich der Buchgestaltung seiner Natur gemäss auf Stetigkeit angewiesen ist und wenig geneigt, sich rasch heftig zu wandeln.

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Konstruierte Schrift von Joost Schmidt, um 1925 [Bauhaus-Archiv / Museum für Gestaltung, NL Joost Schmidt, Mappe 34].

Eine hebräische Schrift im Geist der Bauhaus-Typographie ist die 1929 in Warschau gegossene ‹Chaim,[23] der, im Gegensatz zu ihren direkten Vorbildern, eine äusserst erfolgreiche Karriere als Akzidenzschrift beschert war. Die vollständig rundungslose, serifen- bzw. endstrichlose Schrift ist aus Balken in gleichbleibender Stärke konstruiert und stellt einen Bruch mit sämtlichen Regeln traditionsbestimmter Schriftgestaltung dar. Ihr Schöpfer, der im polnischen Schlesien geborene Jan Le Witt, hatte 1927 Tel Aviv besucht und hier den durch die um 1924 einsetzende Einwanderungswelle ausgelösten Boom erlebt.[24] Mit einem regen kulturellen und kommerziellen Leben war in der ‹ersten hebräischen Stadt› auch ein Bedürfnis nach modern gestalteter Werbung entstanden. Bald nach seiner Rückkehr nach Warschau 1928, wo er sich als Werbegrafiker betätigte, begann Le Witt mit den Entwürfen für eine hebräische Druckschrift, die ähnlich zeitgemäß wirken sollte wie die 1927 von der Bauerschen Schriftgießerei in Frankfurt erfolgreich als «Schrift unserer Zeit» vermarktete geometrische Groteskschrift ‹Futura von Paul Renner. Das Ergebnis – ganz im Gegensatz zu Renners vielseitiger Schrift, deren Zeichen zwar aus Kreisen und geraden Linien konstruiert scheinen, in Wahrheit aber den Sehgewohnheiten entsprechend angepasst sind – war eine Schrift von fast brutal zu nennender Modernität, die sich in Palästina schon bald sehr großer Beliebtheit als Auszeichnungsschrift erfreute.

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‹Chaim, verwendet auf einem konstruktivistisch gestalteten Umschlag eines in Warschau gedruckten Buches in Jiddischer Sprache, 1931.

Eine weitere hebräische Schrift im Sinne der Neuen Typographie, die dieser Tatsache Rechnung trug, war die 1935 von der Firma Ludwig & Mayer in Frankfurt am Main in zwei Schnitten gegossene Schrift ‹Aharoni – benannt nach ihrem Schöpfer, dem in Tel Aviv aktiven Werbegrafiker Tuvia (Tadek) Aharoni. Die ausschliesslich in Palästina vermarktete Schrift stellt eine Verfeinerung der grob-elementaren ‹Chaim dar. Mit ihrer die Leserichtung betonenden Ausrichtung brachte die ‹Aharoni› eine gegenüber LeWitts Schrift deutlich verbesserte Lesbarkeit und vermittelt auch einen ungleich eleganteren Gesamteindruck. Sie stellt ein würdiges Gegenüber für die damals modernen lateinischen Grotesk- und Egyptienne-Schriften dar. Die Tatsache, dass bei diesen Schriften alle Linien jeweils nahezu die gleiche Stärke aufweisen, machte es möglich, dass die gewünschte formale Angleichung der beiden Schriftsysteme erreicht werden konnte, ohne dabei das hebräische dem lateinischen unterzuordnen. Folgt man einem zeitgenössischen Bericht in der englischsprachigen Palestine Post, wurden die radikal modernistischen Formen des Hebräischen in Palästina auch im Bereich der Werbung begeistert aufgenommen. So schreibt der britische Autor, dass die Vorliebe für serifenlose, monolineare Schriften hier zu einer Form des Hebräischen geführt habe, das mit dessen traditionellen Formen cso wenig zu tun habe, wie der moderne europäische Jude mit den antiken Israeliten».[25] Neben dem zu dieser Zeit zweifellos herrschenden Mangel an zeitgemäßen hebräischen Druckschriften, lässt sich der Siegeszug der modernistischen Tendenz zu einem gewissen Grad auch mit der damals in der jüdischen Gemeinschaft in Palästina dominanten Ideologie des sozialistischen ‹Arbeiterzionismus› erklären. Diese wies Tradition als bestimmenden Faktor entschieden zurück und betonte die Möglichkeit einer radikalen Transformation von Kultur und Gesellschaft.[26]

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‹Aharoni›: Schriftmuster, 1936.

Abschied von Europa

Auch wenn es in Jerusalem seit 1906 eine Kunstgewerbeschule gab, haben sich die modernistischen Tendenzen in Palästina ausserhalb dieser Institution entwickelt. An der Bezalel wurde bis zu ihrer zwischenzeitlichen Schliessung 1929 hauptsächlich kunstgewerbliche Souvenirs und dekorative Kunstgegenstände hergestellt. Der dabei zur Anwendung kommende Stil war geprägt von einem romantisierenden Bild des Orients.[27] Eine Auseinandersetzung mit Herausforderungen der Moderne fand an der Bezalel kaumstatt. Im Bereich der Schrift- und Buchkunst hatte man sich weitgehend auf die Gestaltung von Illustrationen und ornamentalem Buchschmuck beschränkt. Die Schule war deshalb ohne großen Einfluss auf eine Weiterentwicklung der hebräischen Druckschriften oder auf die allgemeine Qualität der im damaligen Palästina produzierten Bücher geblieben. Dies änderte sich erst als die Bezalel 1935 grundlegend reformiert wiedereröffnet wurde. Unter ihrem neuen Leiter, dem Berliner Künstler Josef Budko, wurde die Schule zum Anlaufpunkt für eine Reihe aus ihrer Heimat geflohener deutsch-jüdischer Gestalter, die sich oftmals ihre tiefe Verbundenheit mit der deutschen typographischen Kultur über den Zivilsationsbruch hinaus bewahrt hatten.

Nicht zuletzt wurde an der Neuen Bezalel auch ein Schriftkurs mit hebräischem Schwerpunkt eingerichtet. Hierzu wurde der aus Galizien stammende Yerachmiel Schechter als Lehrer berufen, der in der Zeit zwischen 1921 und 1927 mit allen kalligraphischen Arbeiten des Zionistischen Weltkongresses betraut gewesen war. Der Unterricht des Autodidakten Schechters an der Bezalel folgte weitgehend der historisch ausgerichteten Methode Edward Johnstons.[28] Als Moritz Spitzer um 1940 in Jerusalem an seinen ersten Veröffentlichungen zu arbeiten begann, hatte diese Initiative an der Neuen Bezalel aber offenbar noch wenig Auswirkungen auf die Kultur des gedruckten hebräischen Buches gezeigt.[29] Die Druckereien im Land waren schlecht mit grösstenteils aus polnischer oder deutscher Produktion stammendem Schriftenmaterial ausgestattet. Für den hebräischen Werksatz standen grösstenteils nur veraltete und abgenutzte Typen zur Verfügung, wobei die Auszeichnungsschriften kaum mit den verfügbaren Grundschriften korrespondierten, so dass man sie nicht gut für Überschriften, Titeleien oder Initialen verwenden konnte. Da während des Zweiten Weltkriegs weder Druckmaschinen noch typographisches Material ersetzt werden konnten verschlechterte sich der Zustand der Typen eher noch. Zumindest äussert sich Gerschom (Gustav) Schocken, der hier zehn Jahre zuvor die Leitung der von seinem Vater Salman gekauften hebräischen Tageszeitung Haaretz inklusive der hauseigenen Druckerei übernommen hatte, 1946 entsprechend.[30] Beim grössten Teil der hier zur Verfügung stehenden hebräischen Schriften handle es sich um «hässliche und verdorbene Nachfahren» der ursprünglich schönen Typen, die im sechzehnten Jahrhundert in Italien geschnittenen wurden. Mit der Ausnahme von ein, zwei, einzig für Werbezwecke geeigneten Alphabeten, so Schocken 1946, habe die Renaissance der hebräischen Sprache bisher noch keine neuen Schriften hervorgebracht. Deshalb sei eine der großen Aufgaben, vor denen das jüdische Druck- und Verlagswesen in Palästina stehe, die Herstellung neuer hebräischer Druckschriften.[31]

Die Herausforderung, der sich in Folge alle drei in dieser Ausstellung behandelten Gestalter auf unterschiedliche Weise annahmen, bestand dabei darin, jenseits der Dichotomie von Traditionalismus und Gegenwärtigkeit gleichsam ‹zeitoffene› gestalterische Lösungen zu finden – und damit Schriftformen zu schaffen, die sowohl der weit zurückreichenden Tradition als auch dem grundlegend veränderten Status der hebräischen Sprache gerecht werden können.

Philipp Messner, 2015

Erschienen in hebräischer und englischer Übersetzung im Katalog zur Ausstellung «דפוסים משתנים | New Types – Three Pioneers of Hebrew Graphic Design».

 

[1] Zu den Besonderheiten der deutschen Druckkultur im 20. Jahrhundert, siehe Robin Kinross: Modern Typography: An Essay in Critical History (London 1992), 67–79.

[2] Zur Geschichte der Leipziger Akademie, siehe Julia Blume und Fred Smeijers: Ein Jahrhundert Schrift und Schriftunterricht in Leipzig (Leipzig, 2010).

[3] Henri Friedlaender: Handschriftlicher Lebenslauf, 10.09.1925, Staatsarchiv Leipzig, 20199/103.

[4] Vgl. Kurt Löb: Exil-Gestalten. Deutsche Buchgestalter in den Niederlanden, 1932–1950 (Arnhem, 1995), S. 42.

[5] Vgl. Henri Friedlaender an Siegfried Guggenheim, 23.06.1947, Leo Baeck Institute Archives, Siegfried Guggenheim Collection, AR 180/I/16.

[6] Vgl. Peter Jessen: «Die Schrift», in: Archiv für Buchgewerbe 1, no. 4 (1899), S. 149.

[7] Archiv für Buchgewerbe und Gebrauchsgraphik 59, no. 9/10 (1922).

[8] Vgl. Walther G. Oschilewski: «E. R. Weiß und die Schönheit der Formen», in: Imprimatur NF 2 (1960): S. 5–13, 10.

[9] Ebd.

[10] Vgl. Franzisca Baruch: Zensurbogen Sommersemester 1918/19, Universität der Künste Berlin, Universitätsarchiv, 7/350.

[11] Vgl. Marie Marcks: Else Marcks-Penzig (München, 1995), S. 8.

[12] Vgl. Günter Scherbarth, «Erinnerungen an den Maler, Grafiker und Lehrer Ernst Böhm (1890–1963)», in: Myosotis 8, no. 2/3 (1993), S. 28-34.

[13] Franzisca Baruch: Skizzenbuch, Israel Museum Jerusalem, Archiv Franzisca Baruch, B14.1274.

[14] Joseph Tscherkassky (Hg.): Magere Stam, Stam, Rambam, Rahel (Berlin, [1930]). [PDF]

[15] Ders. (Hg.): Katalog hebräischer und jüdischer Schriften der Schriftgießerei H. Berthold AG (Berlin, 1924); siehe auch Stephen Lubell: «Joseph Tscherkassky – Orientalist and Typefounder», in: Gutenberg-Jahrbuch 71 (1996), S. 222–239.

[16] Tscherkassky (1924), n.p.

[17] Vgl. Rafael Frank: Über hebräische Typen und Schriftarten (Berlin, 1926), S. 21; Neben der Frank-Rühl geht auch die 1924 von Berthold publizierte, in ihrer Art präzendenzlose, monolineare Schrift Mirjam auf Entwürfe des 1920 verstorbenen Frank zurück: Vgl. Ittai Joseph Tamari: «Rafael Frank und seine hebräischen Druckschriften», in: M. Unger (Hg.): Judaica Lipsiensia (Leipzig, 1994), S. 70–78.

[18] Werbebrief der Soncino-Gesellschaft der Freunde des jüdischen Buches, [1924], Jüdisches Museum Berlin, Sammlung Soncino-Gesellschaft, DOK 93/502/7–14; zur Soncino-Gesellschaft allgemein, siehe: Karin Bürger, Ines Sonder, und Ursula Wallmeier (Hgs.): Soncino-Gesellschaft der Freunde des jüdischen Buches. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte (Berlin, 2014).

[19] Herrmann Meyer: «[Rezension zu Frank, Rafael: Über hebräische Typen und Schriftarten, 1926]», in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 70, no. 5 (1926): S. 428–429, 429. [PDF]

[20] Vgl. Robin Kinross: «Das Bauhaus im Kontext der Neuen Typographie», in: Ute Brüning (Hg.): Das A und O des Bauhauses (Leipzig, 1995), S. 9–14.

[21] Vgl. Ute Brüning: «Unterricht Joost Schmidt. Vorkurs ‹Schrift und Reklame›», in: Ebd., S. 193–205.

[22] Robin Kinross: «Das Bauhaus im Kontext der Neuen Typographie», in: Ebd., S. 12.

[23] Verschiedentlich wird als Urheber der Schrift auch der aus Ungarn stammende Pesach Ir-Shay genannt. Dass eine entsprechende Schrift Ir-Shays von einer Schriftgießerei produziert worden wäre, dafür gibt es nach Wissens des Autors keinerlei Anzeichen. Chaim wurde vom Warschauer Unternehmen Jan Idźkowski i S-ka 1929 gesetzlich Schützen lassen. Vgl. Marian Misiak, «Chaim: owoc wielokulturowej Warszawy», in: Ders. (Hg.): Paneuropa, Kometa, Hel. Szkice z historii projektowania liter w Polsce (Kraków 2015), S. 76–81.

[24] Vgl. Herbert Read, Jean Cassou und John Smith: Jan Le Witt (Paris, 1972), S. 138.

[25] «[...] a species of typography which is as unlike traditional Hebrew as the modern European Jew is unlike the ancient Israelites», Louis Katin: «Neonising the Hebrew Alphabet», in: Palestine Post, 19.07.1935, S. 6.

[26] Zur revolutionierenden Rolle der hebräischen Sprache im Zusammenhang mit dem zionistischen Projekt siehe: Benjamin Harshav: Language in Time of Revolution (Berkeley, 1993).

[27] Vgl. Dalia Manor: «Orientalism and Jewish National Art: The Case of Bezalel,» in: I. D. Kalmar und D. J. Penslar (Hgs.): Orientalism and the Jews, (Waltham, Mass., 2005), S. 142–161.

[28] Vgl. Leila Avrin: «Calligraphy, Modern Hebrew,» in Encyclopaedia Judaica, 2nd Edition, (Detroit and Jerusalem, 2007), Bd. 4, S. 366–373.

[29] Vgl. Israel Soifer: «The pioneer work of Maurice Spitzer», in: The Penrose Annual 63 (1970), S. 127–145.

[30] Gustav Schocken: «Printing and Publishing», in: J. B. Hobman (Hg.): Palestine’s Economic Future: A Review of Progress and Prospects, (London, 1946), S. 244–252.

[31] Ebd.